Certo: Zu hoher Arbeitsdruck - Interessierte Selbstgefährdung als ungesunde Strategie
Die Mittagspause ausfallen lassen, am Wochenende arbeiten oder krank an den Schreibtisch setzen – wenn das Arbeitspensum zu groß wird, ignorieren Beschäftigte häufig ihr Limit und gefährden ihre Gesundheit. Die Wissenschaft spricht hier von interessierter Selbstgefährdung. »Das meint jedoch nicht, dass ich als betroffene Person ein Interesse an Selbstgefährdung habe«, sagt Prof. Dr. Andreas Krause von der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), »sondern daran, beruflich erfolgreich zu sein, mich im Unternehmen zu legitimieren.« Krause lehrt an der FHNW angewandte Psychologie, interessierte Selbstgefährdung ist einer seiner Forschungsschwerpunkte. Den Begriff bezeichnet er als eine Art Überschrift für unterschiedliche Bewältigungsstrategien, die Mitarbeitende einsetzen, um mit Druck bei der Arbeit umzugehen.
Dieser Druck ist nicht zuletzt das Ergebnis einer sich seit längerem verändernden Arbeitswelt: Bereits auf unteren Hierarchieebenen wird immer häufiger mehr Verantwortung übertragen. Dazu kommen immer höhere Anforderungen an die Selbstorganisation – im Büro, oder bei der heutzutage zum Arbeitsalltag gehörenden hybriden Arbeit. Wird dieser Druck zu groß, besteht die Gefahr, dass Beschäftigte zu nicht funktionalen Bewältigungsstrategien greifen. Damit sind Verhaltensweisen gemeint, die kurzfristig zwar helfen, belastende Situationen zu bewältigen, langfristig aber zu keiner Lösung führen und insgesamt sogar schädlich sein können.
Dabei lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. »Es gibt zum einen das extensivierende Verhalten«, sagt Krause. »Also: Ich mache mehr, als mir guttut, gehe über meine Grenzen.« Das kann sich zum Beispiel durch den Verzicht auf Erholungspausen, durch Wochenendarbeit, regel- oder übermäßigen Konsum von leistungssteigernden Substanzen oder Präsentismus äußern – also dem Arbeiten auch bei Krankheit. Demgegenüber steht das vermeidende Verhalten, etwa wenn Beschäftigte Abstriche bei der Qualität der Arbeit machen, um Deadlines zu halten, oder eine hohe Leistungsfähigkeit vortäuschen. Langfristig kann dies beidem schaden: der Gesundheit und dem beruflichen Erfolg.
Wie also lässt sich dem begegnen? »Wichtig ist, zu verstehen, warum es überhaupt zu solchen Verhaltensweisen der Beschäftigten kommt«, weiß Dr. Nicole Deci. Deci ist Arbeitspsychologin bei der VBG und hat zum Thema Selbstgefährdung promoviert. »Entstehen Engpässe im Unternehmen, oder ist der Arbeitsdruck zu hoch, arbeiten Beschäftigte oft härter, auch ohne Anweisung. Sie wissen, dass ihr Verhalten gesundheitsschädlich sein kann, tun es aber dennoch, weil sie erfolgreich sein möchten, ihren Arbeitsplatz sichern oder ihre Kolleginnen und Kollegen nicht im Stich lassen wollen.« Deshalb ist es wichtig, die Arbeitsbedingungen in den Blick zu nehmen, die genau zu diesen ungesunden Mechanismen beitragen. […]
Doch auch wenn das Verhalten des oder der Einzelnen hier eine Rolle spielt, sieht Deci vor allem die Unternehmen in der Pflicht. Ihre Empfehlung: Organisationen sollten ihre Unternehmenskultur reflektieren, aber auch kritisch auf Arbeitsbedingungen schauen, die zu Engpässen und Drucksituationen führen können. Die Gestaltung von Zielsetzungsprozessen spielt hierbei eine besondere Rolle. Deci: »Dabei hilft die VBG natürlich sehr gerne, indem sie Unternehmen zum Beispiel bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung berät oder auch Empfehlungen für gesunde Führung gibt.«
VBG-Praxistipps: Warnsignale interessierter Selbstgefährdung erkennen und gegensteuern
Interessierte Selbstgefährdung ist keine Seltenheit, für Außenstehende aber mitunter schwer zu erkennen. Sollten Sie diese Warnsignale bei Kolleginnen, Kollegen oder sich selbst wahrnehmen, besteht Handlungsbedarf. Eine erste Hilfestellung bieten die Praxistipps [im Beitrag ausführlich erläutert] im Folgenden:
- Warnsignal: Grenzenlos und temporeich
- Warnsignal: Krank am Schreibtisch
- Warnsignal: Problematischer Konsum
- Warnsignal: Qualität im Sinkflug
- Warnsignal: Folgenreiches Vortäuschen
Praxishilfen der VBG:
- Tipps und Hilfen zur Integration psychischer Belastung in die Gefährdungsbeurteilung
- Publikation »VBG-Fachwissen: Gesund und erfolgreich führen. Informationen für Führungskräfte«
- Informationen und Publikationen zum Thema »Indirekte Steuerung durch Führung«
- Selbsttest Interessierte Selbstgefährdung Quelle: Certo